Uhrmacherische Pflichtlektüre
Dass die Welt in Unordnung ist, wenn die Begriffe sich verwirren, konstatierte schon Konfuzius. Diese Erkenntnis trifft heutzutage leider auch auf das Thema Uhren zu. Ganz besonders auf die häufig verwendeten Begriffe Gangreserve und Gangautonomie. Denn nein, sie sind nicht ein und dasselbe.
Traditionsgemäß ist dort eigentlich alles fein geregelt. Die Funktionsabläufe vom Federhaus, also dem Energiespeicher bis hin zum Gangregler unterliegen bei mechanischen Zeitmessern ganz den Gesetzen der Mathematik und Physik.
Sämtliche Komponenten einer Uhr, die verwendeten Materialien und auch die weiteren Aspekte rund um die Messung der Zeit haben eindeutige Namen. Besser noch, die Übereinkunft über die Bedeutung dieser Fachausdrücke wurde in Lexika festgehalten.
Als unangefochtenes Standardwerk der Uhrmacherei gilt das „Illustrierte Fachlexikon der Uhrmacherei“. Georges-Albert Berner, (1883 – 1976) der Autor dieser umfassenden Themensammlung, war Uhrmacher von Beruf und wirkte außerdem als Leiter der Bieler Uhrmacherschule.
Auf rund 1.000 Seiten enthält dieses opulente Buch mehr als 4.000 Begriffe rund um dieses Metier in den Sprachen Französisch, Deutsch, Englisch sowie Spanisch. Es ist somit mehr als zu empfehlen. Wie der Name bereits andeutet, finden sich neben den erläuternden Texten und Definitionen auch viele erhellende Grafiken.
Nachdem die alphabetische Reihenfolge zunächst der französischen Terminologie folgt, gibt es überdies einen Anhang, der die sprachliche Zuordnung der konsequent durchnummerierten Wörter gestattet. Folglich gehört dieses Werk zwingend in die Bibliothek jedes Uhrenherstellers – sollte man meinen. Im Zweifelsfall könnten und sollten es seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sogar benutzen. Fachjournalisten wären gelegentlich gleichfalls gut beraten, sich des übrigens auch in elektronischer Form erhältlichen „Berner” zu bedienen. Auf diese einfache Weise ließe sich so manche, nennen wir es mal Ungenauigkeit vermeiden.
„Bi-Compax“ oder „Tri-Compax“ sucht man in diesem Werk zwar vergebens. Aber diese beiden Termini sind Paradebeispiele dafür, wie sich Nonsens und unkorrekte Bezeichnungen verbreiten können.
Thema Gangreserve
Spätestens jetzt ist es an der Zeit, sich mit der Gangreserve von Uhren zu beschäftigen. Bedauerlicher Weise wird dieser Fachbegriff in technischen Dokumentationen und Pressetexten nahezu hundertprozentig unkorrekt verwendet. Dabei sagt allein schon die sprachliche Logik, dass der heutzutage von fast allen Uhrenmarken praktizierte Umgang mit dem Wort Gangreserve nicht korrekt sein kann. „Reserve“, so der deutsche Duden, ist „etwas, was für den Bedarfs- oder Notfall vorsorglich zurückbehalten, angesammelt wird.“
Genau das bringt Georges-Albert Berner in seinem Wörterbuch bei der Definition des Wortes Gangreserve zum Ausdruck: „Zeit, während der eine Klein- oder Großuhr zwischen zwei Aufzügen über die normale Gangdauer hinaus (24 Stunden für Kleinuhren, 7 Tage für gewöhnliche Großuhren) noch laufen kann. In den Kleinuhren beträgt die Gangreserve gewöhnlich 10 bis 16 Stunden.“
Bei seiner einleuchtenden Definition ging der erfahrene Uhrmacher und Lehrer davon aus, dass Besitzerinnen und Besitzer einer Handaufzugsuhr ungeachtet der verfügbaren Gangreserve regelmäßig nach besagten Zeitraum zu Krone oder Schlüssel greifen, um den Energiespeicher wieder zu füllen.

So definiert Georges-Albert Berner das Wort Gangreserve in seinem Illustrierten Wörterbuch der Uhrmacherei von 1961

Die Gangautonomie des Handaufzugskalibers Peseux-Eta 7001 liegt bei ca. 42 Stunden. Folglich beträgt die Gangreserve 18 Stunden.
Die Definition der Begriffe
Das korrekte Wort für die Zeitspanne, in der ein Uhrwerk autonom, also ohne weiteren Energienachschub läuft, nennt man deshalb Gangautonomie. Alternativ könnte man auch Gangdauer sagen. Aber eben nicht Gangreserve. Bei Handaufzugswerken sind die Dinge klar. Sofern ihre Zugfeder kein manuelles Spannen, also eine neue Energiezufuhr durch Handaufzug erfährt, bleibt die Uhr am Ende der Gangdauer stehen. Für Automatikwerke gilt dies in gleicher Weise, sollte der Rotor bewegungslos in beliebiger Position verharren.
Die „Tankuhr“ auf See für mechanische Zeitmesser
In Zeiten vor Funk-Navigation und GPS waren die Seefahrer zwingend auf die genaue Zeit angewiesen. Allein mit ihrer Hilfe ließ sich die geographische Länge ermitteln. Folglich durften die mitgeführten Uhren niemals stehen bleiben. In der Regel führten Hochseeschiffe deshalb mindestens zwei präzise Marinechronometer mit.
Deren Herstellung erfolgte ab dem 18. Jahrhundert nach klar definierten Kriterien. Damit diese wichtigen Instrumente unterwegs ja nicht stehen blieben, verfügten sie ebenfalls über eine Indikation, welche den Spannungszustand der Zugfeder schnell erkennbar zum Ausdruck brachte.
Im deutschsprachigen Raum war oft von einer Auf-Ab-Anzeige die Rede. Eine solche gehörte auch zur Ausstattung sogenannter Beobachtungs- oder Deckuhren. Darunter versteht man Präzisionsinstrumente, welche Militär, Forschungseinrichtungen oder Organe der Luft- und Seefahrt zur Überwachung und zum Vergleich der Zeit verwendeten. Dieser Typus Taschen- oder Armbanduhr diente einmal zum Übertragen der exakten Zeit von den in Seewarten tickenden Sekundenpendeluhren auf die Marinechronometer. Ferner zum Vergleich der Resultate von Besteckaufnahmen mit Hilfe von Sextanten mit der Uhrzeit des fest auf der Brücke verschraubten Marinechronometers.
Die futuristische Jaeger-LeCoultre „Futurematic“ von 1953. Bei „9“ findet sich die Gangreserveanzeige. Der kleine Sekundenzeifer dreht rechts bei „3“.
Als sich der automatische Aufzug von mechanischen Uhrwerken ab den späten 1940-er Jahren darum bemühte, bei Männern zu punkten, spielte die sogenannte Gangreserveindikation abermals eine wichtige Rolle. Diese Gangreserve-Anzeige wurde jedoch von den Uhrenmarken ganz unterschiedlich ausgeführte. Allen gleich war der Umstand, insbesondere misstrauische Zeit-Genossen sollte sie davon überzeugen, dass der Selbstaufzug auch wirklich einwandfrei funktionierte. Über die Jahre verschwand die Gangreserveindikation dann allerdings von der Bildfläche.
Erst in den 1990-er Jahren kehrte die Gangreserveanzeige als attraktives chronometrisches Accessoire zurück. Nützlich ist sie vor allem bei Handaufzugswerken mit langer Gangautonomie. Da sagt sie dem Träger, wann er wieder Hand anlegen darf – oder muss.

Ganze 14 Tage beträgt die Gangautonomie der neuen Hublot „Big Bang MP-11 Red Magic“, Referenz 911.CF.0113.RX-SD-HR. Folglich besitzt das Handaufzugskaliber HUB9011 mit sieben seriell geschalteten Federhäuser 13 Tage Gangreserve. Eine bedruckte Trommel lässt wissen, wie es um den aktuellen Energievorrat bestellt ist.
Vielen Dank für den Hinweis und das aufmerksame Lesen!
🙂
Danke Gisbert, wieder ein wunderbarer (für manche sicher auch ein bitterböser) Artikel zu den Gesetzen der Mathematik und Physik bei mechanischen Zeitmessern – leicht verständlich erklärt!
In der Tat ist die Gangreseveanzeige auf Zifferblättern von Armbanduhren eine ästhetisch reizvolle „Komplikation“, wie z. B. bei meiner PP Officier Ref. 5054 oder der A. Lange & Söhne 1815 „Auf & Ab“.
Bitte weiter solche blumige Artikel für uns Uhren-Aficionados…
Beste Grüsse, Jürgen Trebin
1000 Dank für das Lob, lieber Jürgen. Alles Gute dir
„In Zeiten von Funk-Navigation und GPS waren die Seefahrer zwingend auf die genaue Zeit angewiesen“
Sollte sicher heissen:
In Zeiten VOR Funk-Navigation und GPS waren die Seefahrer zwingend auf die genaue Zeit angewiesen
Besten Dank für den Hinweis, klar