Wege zur Locomotive
Es ist August 2024 und damit der Monat, in dem die wiederbelebte Credor Locomotive der Seiko-Tochter am Markt verfügbar ist. Dieses Comeback eines in Europa wenig bekannten Uhrenklassikers ist Anlass genug, sich mit der Uhrenmarke Credor und einer weiteren Kreation von Gérald Genta zu befassen. Beginnen wir mit dem Design-Guru, über den der Uhrenkosmos schon mehrfach berichtet hat. Seiner unbändigen Kreativität und seinem nicht minder ausgeprägten Geschäftssinn verdankt die Uhrenwelt anerkannte Ikonen wie die Audemars Piguet Royal Oak, IWC Ingenieur SL oder die Patek Philippe Nautilus, um an dieser Stelle nur drei Modelle zu nennen.
Wie Evelyne Genta bei einem Gespräch in London wissen ließ, jettete der 2011 verstorbene Produktgestalter und Unternehmer sehr gerne nach Japan. Er schätzte das Land, seine Geschichte und Kultur. Zu touristisch motivierten Trips und Land der aufgehenden Sonne gesellten sich im Laufe der Zeit auch Geschäftsreisen.
Letztere verknüpften sich auch mit einer freundschaftlichen Beziehung zu Reijiro Hattori. Dabei handelte es sich um keinen geringeren als den Enkelsohn von Kintaro Hattori, der Seiko 1881 in Tokio gegründet hatte. 1978 während eines der fast schon regelmäßigen Besuche in Japan und dort bei Seiko, gab der 1921 geborene und am 22. Januar 2013 verstorbene Reijiro Hattori bei Gérald Genta das Design einer neuen Armbanduhr in Auftrag.
Gedacht war es für Credor, das damals nur im eigenen Land vertriebene Luxuslabel unter dem Dach von Seiko. Davon später mehr. Genta ließ sich das nicht zweimal sagen und machte sich an die Arbeit. In gewohnter Weise entstand noch im gleichen Jahr 1978 eine Zeichnung für den Newcomer. Obwohl sich der Entwurf und seine Realisierung deutlich von den Kreationen für die genannten Schweizer Marken unterscheiden, sind die schöpferische Provenienz und die Handschrift des Designers unverkennbar.
Schwierige 1970-er Jahre
Bei dieser Gelegenheit heißt es einen Blick zu richten auf das Uhr-Geschehen in den 1970-er Jahren. Ausgelöst durch die 1969 erstmals vorgestellten Armbanduhren mit quarzgesteuertem Innenleben schlitterten viele der weiterhin stark auf Mechanik fokussierten europäischen Hersteller in eine gewaltige Uhrenkrise. Die Angstgegner saßen in Japan. Dort hatten Seiko und auch Citizien die Bedeutung der Elektronik für präzise und preiswert gemessene Zeit nicht nur eher erkannt, sondern ihr auch durch gezielte Forschung und Entwicklung Rechnung getragen.
Die Krise, welche sich im Laufe der 1970-er Jahre allmählich anbahnte und gegen Ende des Jahrzehnts gewaltige Auswirkungen auf die eidgenössischen Protagonisten, deren Produkte und Mitarbeitenden zeitigte, hielt Gérald Genta nicht davon ab, für Seiko tätig zu werden.
Die gelebte Freundschaft mit Reijiro Hattori, der Genta und seine schöpferische Kraft bewunderte, half dabei, Grenzen, Vorurteile und Rivalitäten zu überwinden. Als Künstler betrachtete Genta die Dinge ohnehin aus einem anderen Blickwinkel. Er wollte seine Kreativität ausleben und scherte sich herzlich wenig und die erbitterte Konkurrenzsituation.
Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang, dass der Japaner im Zuge des Miteinander den Vorschlag unterbreitete, Gérald Genta möge sich mit einer eigenen Marke und Uhrenproduktion in der Schweiz selbständig machen.
Locomotive 1979
Die Umsetzung der gezeichneten Gedanken in die Realität nahm bei Seiko etwa ein Jahr in Anspruch. 1979 gelangte die mit Credor und Seiko signierte Uhr auf den Markt. Der Durchmesser des Stahlgehäuses lag bei den damals verbreiteten 35 Millimetern Durchmesser. Die Wasserdichte reichte bis zu zehn bar Druck. Natürlich kümmerte sich ein flaches Quarzwerk; Kaliber 5932, um die Anzeige von Stunden, Minuten, Sekunden und Datum. Ebenso selbstverständlich brauchte das zeitbewahrende Kind einen Namen. Und den fand der gestalterische Vater höchstpersönlich.
Obwohl das sechseckige Gehäusedesign mit abgerundeten Kanten und sichtbaren Schrauben durchaus gewisse Ähnlichkeiten mit der Front einer altehrwürdigen Dampflokomotive aufweist, sollte Locomotive als eine Art Zugmaschine im Hause Seiko wirken. Designer, Techniker, Handwerker und auch das Management waren aufgefordert, der japanischen Marke eine stärkere eigene Identität zu verleihen. Daran mangelte es damals immer noch, wie Blicke in die Kollektionsbücher zeigten.
Beim optischen Aufritt der japanischen Uhren war von Eigenständigkeit gepaart mit markenspezifischem Wiedererkennungswert noch nicht sehr viel zu spüren. In dieser Hinsicht brachte die Credor Locomotive tatsächlich frischen Wind mit sich. Beredte Beispiele sind anschließend vorgestellte Uhrenlinien wie beispielsweise Linea Curva (1985) oder Entrata (1987).
Credor Locomotive
Von einem wirtschaftlichen Erfolg konnte man bei der Credor Locomotive beim besten Willen nicht reden. Deshalb verschwand sie relativ schnell und ohne Aufsehen wieder aus der Kollektion. Seiko handelte also diametral zu Audemars Piguet und Patek Philippe. Trotz anfangs verhaltener Kundenreaktionen hielten beide Manufakturen eisern an der Royal Oak bzw. der Nautilus fest. Und sie entwickelten diese Armbanduhren konsequent weiter.
Wer ist Credor?
An dieser Stelle nun ein paar Worte zur Marke Credor. Ihre Geburtsstunde schlug 1974, also vor genau 50 Jahren. Ähnlich wie früher Grand Seiko ist sie außerhalb Japans kaum bekannt. Die zu teilweise sehr beträchtlichen Publikumspreisen angebotenen Uhren blieben dem japanischen Markt vorbehalten. Der Name leitet sich ab vom französischen Créte d’Or. Übersetzt könnte man vom Nonplusultra des Goldes reden. Daraus geht hervor, dass ursprünglich für das Outfit nur Edelmetalle Verwendung fanden. Die Herstellung oblag speziell auf japanische Ästhetik und Vollendung trainierten Handwerkern. Bereits die Locomotive brachte eine Abkehr von den Edelmetall-Prinzipien. Bis 1980 fand sich auf den Uhren neben Credor auch die Herkunftsbezeichnung Seiko. Auch hier sind Parallelen zu Grand Seiko offensichtlich.
1980 brachte ein höheres Maß an Eigenständigkeit. Zum allein verwendeten Namen Credor gesellte sich das Golden Peak-Logo. Dieses symbolisiert die Spitze eines Berges und zugleich den Gipfel japanischer Uhrmacherkunst.
Drei Sterne repräsentieren die von Credor gelebten und gepflegten Prinzipen:
– gleichermaßen originelle wie eigenständige Uhrendesigns mit Bezug auf Japan
– technologische und uhrmacherische Kompetenz unter Einbeziehung moderner Fertigungsmethoden
– Höhepunkt jener dessen, was Seiko im Rahmen seiner langen Geschichte erreicht hat.
Das auch noch 50 Jahren bestehende Mysterium besteht darin, dass die Credor-Zeitmesser vom japanischen Markt inspiriert sowie für ihn entworfen und hergestellt werden. Folglich handelt es sich um zeitbewahrende Interpretationen der japanischen Kultur, konzipiert primär für den heimischen Markt.
Credor Locomotive 2024
Die Locomotive begründete in diesem Zusammenhang eine gewisse Ausnahme. Möglicherweise war es auch ihr europäisch geprägtes Design, welches bei der zahlungskräftigen japanischen Klientel entgegen den Erwartungen von Reijiro Hattori nicht sonderlich gut ankam und zum recht zügigen Aus der von Sportlichkeit und Eleganz geprägten Armbanduhr führte. Ein anderer Grund mag darin zu sehen sein, dass man in Japan mit dem Namen Gérald Genta nicht sonderlich anzufangen wusste.
Damals war das Internet noch in einiger Ferne und die Berichterstattung über den internationalen Uhrenmarkt und seine Produkte steckten noch in den Kinderschuhen. Evelyne Genta tat jedoch kund, dass Audemars Piguet unwirsch reagierte, als Seiko damit warb, eine ihrer Uhren stamme von derselben Person, welche auch für das Design der Royal Oak verantwortlich zeichnete.
Wie dem auch sei: 45 Jahre nach dem Debüt und 50 Jahre nach Gründung von Credor erachtet es Seiko jedoch an der Zeit, diesem Stück Designgeschichte eine Renaissance zu bescheren. Neben dem Jubiläum mag dazu möglicherweise auch der aktuelle Genta-Hype beigetragen haben. Die Rückkehr der Credor Locomotive erfolgt jedoch nur in limitierter Edition von 300 Exemplaren, deren Verkauf im August 2024 auch in Europa startet. Als unverbindlicher Publikumspreis sind 14.000 Euro aufgerufen.
Titan statt Stahl
Was bekommt man für diesen Betrag? Auf jeden Fall eine Armbanduhr mit Historie, über die sich im Freundes- und Bekanntenkreis etwas erzählen lässt. Storytelling ist heutzutage ein nicht zu unterschätzender Aspekt. Verständlicherweise ist der Durchmesser auf nunmehr 38,8 Millimeter gewachsen. Streiten lässt sich darüber, ob Abkehr von Stahl und die Verwendung der Seiko-eigenen Titanlegierung für Gehäuse und Gliederband den Nagel auf den Kopf trifft.
Unbestreitbar hat dieser Werkstoff einige Vorteile. Beispielsweise ist er antiallergisch und er besitzt zudem ein geringeres spezifisches Gewicht. Von selbst mag sich verstehen, dass die handwerkliche Ver- und Bearbeitung auf höchstmöglichem Niveau erfolgt.
Zu gebürsteten Oberflächen gesellen sich auch polierte Flächen und Kanten. Im Gegensatz zu einst ist die sechseckige Lünette nun mit dem Gehäusekorpus verschraubt. 1979 handelte es sich dagegen nur um dekorative Elemente. Auf das strukturierte schwarze Zifferblatt und die drei Zeiger blickt man durch kratzfestes Saphirglas.
Positiv stechen die Indexierung, welche sich nun korrekt an Gentas Zeichnung orientiert, die optimierten Zeigerlängen und der Rahmen ums Datumsfenster ins Auge. Auch die Modifikation der Befestigung des Gliederbands ist gediegener als seinerzeit. Auf diese Weise präsentiert sich das Ensemble sportlicher.
Kaliber CR01
Nicht ganz nachvollziehen kann ich den geschlossenen Gehäuseboden. Von Quarz ist bei der Locomotive 2024 keine Rede mehr. Credor hat der das Automatikkaliber CR01 spendiert, Und das muss sich eigentlich nicht verstecken. Allerdings gehen Seiko und Credor sehr sparsam mit Fakten zu diesem 26-steinigen Uhrwerk um. 45 Stunden beträgt die Gangautonomie. Stündlich 28.800 Halbschwingungen vollzieht der Gangregler. Nachdem die neue Credor Locomotive am Handgelenk nur 8,9 Millimeter aufträgt, muss das mechanische Innenleben relativ flach ausgeführt sein.
Blickt man ins Seiko Kaliber-Portfolio, stechen die 2018 bzw. 2019 vorgestellten Kaliber 6L35 und 6L75 mit 25,6 Millimetern Durchmesser und nur 3,69 Millimetern Bauhöhe ins Auge. So wie es aussieht, leiten sich diese ab von den 2007 vorgestellten Automatikkalibern 4L25 und 4L75. Letzteres war bis 2013 in den Credor-Referenzen GCBW 993/5/7/9 zu finden.
Die Architektur der 4L-Kaliber mit Wechselrad-Gleichrichter statt Magic Lever nützt auch Soprod in Lizenz für sein Alternance 10 (A-10). Folglich dürfte es so sein, dass besagtes Credor CR01 dieser Kaliberfamilie zugehört. Mit Blick auf den Preis der Locomotive könnten die Unterschiede im verwendeten Spron-Material für die Unruhspirale, den Grad der Regulierung und die Dekoration zu suchen sein.
One Shot?
Dem Comeback der Credor Locomotive tut das keinen Abbruch. Wer diese Armbanduhr kauft, tut das im Bewusstsein, ein gutes Stück Erbe von Gérald Genta am Handgelenk zu tragen. Beim Preis dürften sich die Japaner am Schweizer Wettbewerb orientiert haben. Die 2023 zurückgekehrte IWC Ingenieur kostet in Stahl 12.900 und in Titan 15.900 Euro. Ein Budget von 15.900 Euro verlangt auch die 41 Millimeter messende Chopard Alpine Eagle mit Gehäuse aus Lucent Stahl. Für die Octo Finissimo Automatik mit Titangehäuse und -band, in deren Basis-Design Gérald Genta ebenfalls eingebunden war, verlangt Bulgari 17.700 Euro.
Stellt sich zum Schluss die Frage, ob Seiko es bei einem Locomotive-Shot belässt? Die ausdrucksstarke Lokomotive könnte aber auch der Auftakt für eine dauerhafte Etablierung der Marke Credor auf außerjapanischen Märkten sein. Ein drittes Standbein neben Grand Seiko und Seiko sozusagen. Warten wir es ab.
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