Gut Ding braucht Weile
So viel in aller Kürze vorweg: Irgendwann musste sich A. Lange & Söhne in Stahl üben. Jetzt, genau 25 Jahre nach dem Lancement der ersten Neuzeit-Uhrenkollektion ist es so weit. Mit der stählernen „Odysseus“ präsentiert die Glashütter Nobelmanufaktur nicht nur eine sechste Linie neben „Lange 1“, „1815“, „Saxonia“, „Richard Lange“ und „Zeitwerk“, sondern auch ihre erste sportliche Armbanduhr. Zum Thema Edelstahl hatte ich Günter Blümlein schon am 25. Oktober 1994 befragt. In diesem Zusammenhang verwendete der damalige CEO nach auch das Wort „Zeiteisen“. Ganz generell sah die Zeit für diesen Werkstoff speziell bei A. Lange & Söhne noch nicht gekommen.
Stahl genießt momentan bekanntenmaßen eine steigende Rolle. Es gilt als chic, eine Stahl-Armbanduhr zu tragen. Durch Stahl werden die Endverbraucher-Preise auf ein niedrigeres Niveau gedrückt. Aber dieses Material mindert natürlich die Wertschöpfung. Freilich müssen auch wir uns anpassen. Wenn der Markt Stahl verlangt, muss er eben Stahl bekommen. Zumindest bei IWC und Jaeger-LeCoultre. Auf absehbare Zeit jedoch nicht bei A. Lange & Söhne.
Seit dem Tod des visionären Uhrenmanagers sind nun 18 Jahre durch die sächsischen Lange gezogen. Und währenddessen haben sich die Zeiten grundlegend gewandelt. Eine jüngere Zielgruppe, auf die A. Lange & Söhne dringend angewiesen ist, verlangt nach sportlichem Touch und Edelstahl. Der Kostenfaktor spielt dabei eine untergeordnete Rolle, wie die extrem erfolgreichen Modelle „Royal Oak“ von Audemars Piguet und insbesondere „Nautilus“ von Patek Philippe belegen. Für die puristische Referenz 5711/1A der Genfer Familienmanufaktur, welche bei den offiziellen Konzessionären so gut wie nicht zu bekommen ist, zahlen Ungeduldige gut und gerne das Doppelte des offiziellen Ladenpreises von rund 27.000 Euro. Und genau diese schlechte Verfügbarkeit einer sportlichen Ikone in Edelstahl eröffnet A. Lange & Söhne gewaltige Chancen. Diesen Sachverhalt kennt natürlich auch Wilhelm Schmid. 2012, also ein Jahr nach seinem Amtsantritt als CEO konnte er sich allerdings noch nicht wirklich für eine sportliche Armbanduhr begeistern.
Es ergibt in meinen Augen keinen Sinn, ein neues Segment zu erschließen, wenn die Kapazitäten nicht einmal für das Bestehende reichen. Vordergründiges schätzen wir ebenso wenig wie unsere Kunden, die den diskreten Luxus lieben
Der Sinneswandel und die Weichenstellung in eine neue Ära erfolgten gegen 2015. Dann jedoch mit Herzblut, Engagement und klarer Zielsetzung.
Eine neue Uhrenlinie stampft man nicht von heute auf morgen aus dem Boden. Vor allem dann, wenn es eine rundum echte Lange werden soll. Das beginnt beim Design und endet beim Uhrwerk. Von den existenten Kalibern eignete sich kein einziges für diese sportliche Armbanduhr. Daher mussten Tony de Haas und sein Team sozusagen bei null beginnen. Und am Ende musste es eine echte Lange werden, der man die Herkunft sofort ansieht.
Bloß keine Experimente
Die ersten Eindrücke von einem Zeitmesser fürs Handgelenk sind logischer Weise optischer Natur. Augenfällige gestalterische Eskapaden bei der Gehäuseform kamen für die Produktverantwortlichen nicht wirklich in Betracht. Einschlägige Erfahrungen aus der Vergangenheit, gemeint ist zum Beispiel die „Cabaret“, haben gezeigt, dass die typischen Lange-Kunden jenes Rund bevorzugen, welches für das Ausgehen von und die Rückkehr zu den Ursprüngen steht. Und genau dieser Erkenntnis folgt die Schale der neuen „Odysseus“. Ihre beiden Ausbuchtungen ober- und unterhalb der Krone haben rein funktionalen Charakter. In diesem Fall steuern sie die extrem links und rechts im Zifferblatt positionierten Indikationen für Wochentag und Datum.
A. Lange & Söhne Kaliber L155.1 Ansicht unter Zifferblatt: links Wochentagsanzeige, rechts Großdatum
iDie Wochentage zeigt eine derzeit nur in Englisch beschriftete Scheibe an. Bei der Großdatums-Konstruktion handelt es sich um eine Scheibe für die Zehner- und einen Ring für die Einerziffern. Natürlich hat man in Glashütte bei dieser Anordnung der Bedienelemente schon in die Zukunft gedacht. Will heißen: Über kurz oder lang dürfte es auch einen „Odysseus“ Chronographen geben. Allerdings verlangt auch der nach einem völlig neu konstruierten Uhrwerk vermutlich mit Selbstaufzug und einer Art Vertikalkupplung. Die altbekannte und -bewährte Kaliberfamilie L951.x, deren Zugfeder manuell gespannt werden muss, passt schlichtweg nicht zu dieser neuen Uhrenlinie.
Das Zifferblatt, vor dem nachtleuchtende Weißgold-Zeiger für Stunden und Minuten sowie eine erfreulich große kleine Sekunde drehen, besteht beim Newcomer nicht aus Silber, sondern aus Messing. Weißgold findet Verwendung für die aufgesetzten, ebenfalls mit Leuchtmasse befüllten Stabindexe. Das Ensemble, welches allein schon wegen der beanspruchten Fläche entscheidend zum Gesamteindruck des sportiv-eleganten Newcomers beiträgt, wirkt insgesamt neu, bietet andererseits aber auch genügend Merkmale, welche auch ohne Signatur sehr schnell auf die sächsische Provenienz hinweisen.
„Odysseus“ im Detail
Natürlich besitzt die 40,5-Millimeter große und 11,1 Millimeter hoch bauende Schale einen Sichtboden. Durch den zeigt sich das komplett neu konstruierte und aus 312 Teilen assemblierte Kaliber L155.1. Von selbst mag es sich zunächst verstehen, dass es hinsichtlich Finissage, doppelter Montage und der Regulierung in fünf Positionen den bei Lange allgemein gültigen Kriterien entspricht. Der eine oder andere Lange-Fan wird womöglich übliche die Ansammlung verschraubter Goldchatons vermissen. Dieses Uhrwerk besitzt davon nur einen einzigen. Den Verzicht begründet Tony de Haas mit der zusätzlich benötigen Bauhöhe. Mit 6,2 Millimetern gehört das „Datomatic“ genannte Automatikwerk nicht unbedingt zu den flachen Vertretern dieser Gattung. Aber darauf kam es bei diesem Zukunftsprojekt auch gar nicht an.
Wir wollten ein zuverlässiges, hinreichend robustes, effizientes und gleichzeitig natürlich auch präzises Uhrwerk, das den Kriterien unserer Werkephilosophie in jeder Hinsicht genügt.
Ganz bewusst verzichteten die Konstrukteure beim neuen sächsischen Mikrokosmos mit Sekundenstopp auch auf ein Wechselgetriebe zu Polarisierung der Rotorbewegungen.
Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass eine einseitig aufziehende Schwungmasse ihren Job deutlich effizienter erfüllt.
Luxus spiegelt die Verwendung von Platin für den Rotor wider. Das Material besitzt ein hohes spezifisches Gewicht und trägt daher einen guten Teil zur Aufzugsleistung bei. Bei voll gespannter Zugfeder stehen rund 50 Stunden Gangautonomie zur Verfügung. Kennern fällt sehr schnell auf, dass die Unruh ihre stündlich 28.800 Halbschwingungen erstmals unter einer beidseitig mit der Platine verschraubten Brücke vollzieht. „Gegenüber dem üblichen Kloben“ so Tony de Haas, „gewährleistet eine Unruhbrücke mehr Stabilität. Und eine derartige Schnellschwing-Frequenz von vier Hertz reduziert die äußeren Einflüsse auf die Gangstabilität.“
Die handgravierte Unruhbrücke des Kalibers L155.1 mit Schwanenhals-Feinregulierung für ein gleichmäßiges Tick-Tack. Darunter die Unruh mit variabler Trägheit
Der kugelgelagerte Aufzugsrotor des Kaliber L155.1 besitzt ein äußeres Platinsegment. Er spannt die Zugfeder in einer Drehrichtung. Gangautonomie nach Vollaufzug: 50 Stunden
Als dekoratives Element zeigt sich einmal mehr die Handgravur dieses Bauteils. Der Schwanenhals dient zur Feinjustierung des Anker-Abfalls für gleichmäßiges Tick Tack. Zur unumgänglichen Regulierung des Gangs dienen kleine Masseschrauben im Glucydur-Unruhreif. Somit kann die selbst gefertigte Unruhspirale unbehelligt von einem Rückermechanismus atmen.
Halt am Handgelenk
Bleibt das stählerne Gliederband. Es entsteht nicht in Deutschland, sondern in der Schweiz. Federstege stellen die Verbindung zum Gehäusekorpus her. Folglich ist auch der Tausch mit einem Leder- oder Kautschukband möglich.
Die Befestigung des Armbands erfolgt mit Hilfe von Federstegen. Man erkennt sie innen links und rechts der Bandanstöße
Weil Haptik und Tragekomfort keine Wünsche übrig lassen, wird das vermutlich nur sehr selten geschehen. Außerdem würde das Erscheinungsbild des Gesamtkunstwerks beträchtlich unter diesem Eingriff leiden. Wer ein wenig handwerkliches Geschick besitzt, kann Bandglieder ohne großen Aufwand einfügen oder entfernen. Das dazu nötige Werkzeug liefert Lange & Söhne in einem Etui aus Vintage-Leder mit. Darüber hinaus lässt sich die Länge des Armbands durch eine speziell gestaltete Sicherheitsfaltschließe in kleinen Schritten um bis zu sieben Millimeter variieren. Knopfdruck genügt. Öffnen der Schließe ist entbehrlich.
Die in kleinen schritten verstellbare Sicherheits-Faltschließe der „Odysseus“
Epilog
Mit der „Odysseus“ tritt A. Lange & Söhne in ein neues Zeitalter. Bei Altgedienten in der Uhrenbrache weckt dieser Modellname Erinnerungen an die 1990-er Jahre und die „griechische Phase“ von Jaeger-LeCoultre. Neben „Heraion“ und „Kyros“ Armbanduhren gab es auch eine klassisch runde „Odysseus“-Kollektion unter anderem mit quarz-mechanischem Chronographen oder ewigem Kalendarium. Ob die Schwester aus dem Vallée de Joux die Namensrechte nicht verlängert oder an die Sachsen abgetreten hat, lässt sich nicht sagen. Wilhelm Schmid begründet den Bezug zu einem Heroen der griechischen Mythologie auch mit dem langen Weg von ersten Gedanken bis hin zum fertigen Produkt. Zehn Jahre wie weiland bei Odysseus dauerte die Irrfahrt zwar nicht, aber eine Art Odyssee mag die Entwicklung dieses Produkts schon gewesen sein.

Dass sich der konstruktive und gestalterische Aufwand sowie jede Menge Detailarbeit gelohnt haben, beweist Johann Rupert höchstpersönlich. Seit August 2019 blickt der im südafrikanischen Franschhoek beheimatete Chairman des Richemont-Konzerns diskret aber überaus zufrieden auf diese Armbanduhr. Allein beim Golfen trägt er sie nicht, denn das ist in seinen Augen die schlimmste Tortur, der man eine Armbanduhr aussetzen kann. Und diese Strapazen sollte man übrigens am besten keiner mechanischen Armbanduhr zumuten.
Mit 28.000 Euro bewegt sich der Preis moderat über der Patek Philippe „Nautilus“, Referenz 5711/1A. Dafür bieten die Wettbewerber aus dem Müglitztal zum großen Datum auch eine Wochentagsanzeige. Günstiger geht nach Ansicht von Wilhelm Schmid nicht.
Ehrlich, wir können gar nicht weiter runter mit den Preisen. Wer wir das täten, würden wir etwas produzieren, das nicht zu uns passt. Wir wären nicht mehr wir. Weil wir unsere Standards halten müssen, haben wir schlichtweg keinen Spielraum.
Die potenzielle Klientel wird der Betrag aber ohnehin nicht schrecken. Freaks haben schon lange auf diese Armbanduhr gewartet und werde, das scheint sicher, den Fachhandelspartnern und eigenen Boutiquen die ersten Exemplare förmlich aus den Händen reißen. Bleibt abzuwarten, wann erste Exemplare zu welchen Preisen im Parallelmarkt auftauchen.
Die Drücker ober- und unterhalb der Krone steuern die Wochentags- und Datumsindikation an.
Die Unruhspirale des Kalibers L155.1 entsteht selbstverständlich bei A. Lange & Söhne in Glashütte.
Uhrenkosmos Modell-Steckbrief
Hersteller |
A.Lange & Söhne |
Name |
Odysseus |
Referenz |
363.179 |
Premiere |
Oktober 2019 |
Uhrwerk |
Kaliber L155.1 |
Aufzug |
Automatisch durch einseitig wirkenden Platin-Rotor |
Durchmesser |
32,9 Millimeter |
Bauhöhe |
6,2 Millimeter |
Komponenten |
312, darunter 31 funktionale Steine |
Gangautonomie |
ca. 50 Stunden |
Unruhfrequenz |
vier Hertz |
Anzeige |
Stunden, Minuten, Sekunden, Wochentag und Großdatum |
Zusatzfunktionen |
Sekundenstopp |
Gehäuse |
Edelstahl |
Durchmesser |
40,7 |
Höhe |
11,1 Millimeter |
Wasserdichte |
zwölf bar |
Armband |
Edelstahl-Gliederband mit verstellbarer Sicherheits-Faltschließe |
Preis |
28.000 Euro |
Limitierung |
keine |
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