Polarisierender Auftritt mit Hintergrund
Keine Frage: Das Zifferblatt der Rolex Air King Uhr Referenz 116900 polarisiert in der breit gefächerten Rolex-Kollektion wie kaum ein anderes. Und das brachten 2016 zahlreiche Fans der Schweizer Traditionsmarke auch unverhohlen zum Ausdruck. Während der Baselworld besagten Jahres debütierte dieser Zeitmesser als eine der ersten Kreationen unter der Ägide des neuen Rolex-CEO Jean-Frederic Dufour.
Etliche der Kritiker mochten sich gar nicht anfreunden mit dem ungewöhnlichen Auftritt dieser Rolex Oyster Perpetual Air-King, bei dem Stunden- und Minutenziffern eine keineswegs alltägliche Koexistenz pflegen.
Dieses gleichermaßen augenfällige wie gegensätzliche Design kommt natürlich nicht von ungefähr. Die Produktentwickler besannen sich bei dem für viele gewöhnungsbedürftigen Ziffern-Zahlen-Mix auf das 2006 gestartete und 2018 an der weiteren Finanzierung gescheiterte Bloodhound-SSC-Projekt. Für den pfeilförmigen Überschall-Boliden mit Düsenjäger-Turbine und zusätzlichem Raketenantrieb gestaltete Rolex zwei Cockpit-Instrumente. Diese inspirierten zum Air-King-Zifferblatt mit den natürlich in massivem Weißgold ausgeführten und applizierten Ziffern 3, 6, 9, dem mit der Rolex-eigenen Leuchtmasse Chromalight ausgelegten Weißgold-Orientierungsdreieck bei „12“ sowie insgesamt acht aufgedruckten Minuten-Zahlen.
Blickt man weiter zurück in die Rolex-Geschichte, knüpft die Optik auch an die Tatsache, dass unter anderem auch britische Flugzeugpiloten in den 1940-er Jahren ein ausgeprägtes Faible für Rolex besaßen. Dieser Sachverhalt blieb dem in der Schweiz lebenden Hans Wilsdorf natürlich nicht verborgen. Also regte der erfahrene Kosmopolit die Entwicklung gleich mehrerer unterschiedlicher Armbanduhren mit namentlichem Bezug zur Fliegerei an. Und so entstanden die Modelle Rolex Air-Lion, Rolex Air-Giant, Rolex Air-Tigerund eben die Rolex Air-King.
Letztgenannte Linie gab ihren Einstand im Jahr 1945. Und zwar u.a. als Referenz 4925 mit 34 Millimetern Gehäusedurchmesser. Und letzten Endes war es eben die Rolex Air-King, welche die Epoche der „Rolex Air“-Armbanduhren als Einzige überlebte.
Den nachhaltigsten Erfolg konnte Rolex mit der 1957 fertiggestellten Referenz 5500 verbuchen. Preise: 1975 EUR 310, 1976 EUR 330, 1981 EUR 550 In dieser Armbanduhr verbauten die Genfer das Automatikkaliber 1520. In der Referenz 5700 fand sich hingegen das Pendant 1530 mit Fensterdatum. Des Weiteren folgten u.a. die Referenz 14000, Preis 1998 umgerechnet unverbindliche 1.720 Euro.
Eine amtliche Chronometerprüfung mussten diese und andere in Air-King-Modellen verbauten Uhrwerke wie zum Beispiel die Automatikkaliber 1530 oder 3000 aus Kostengründen nicht absolvieren. Für Hans Wilsdorf und auch seine Nachfolger verkörperte die Air-King den Einstieg in die Welt der sportlich ausgerichteten Rolex Armbanduhren. In diesem Sinne stand auf dem Zifferblatt nicht Superlative Chronometer Officially Certified zu lesen, sondern Precision oder Super Precision.
Das jedoch änderte sich konsequent bei der 2007 lancierten, weiterhin 34 Millimeter messenden Air-King Referenz 114200, welche, mit dem Automatikkaliber 3130 unverbindliche 2.660 Euro kostete. Diese Armbanduhr folgte auf die mit dem gleichen, aber größtenteils nicht zertifizierten Kaliber 3130 ausgestattete Air-King-Referenz 14000M. Auch sie schlug zum Ende ihrer Karriere mit 2.660 Euro zu Buche.
Rolex Milgauss, Air-King und die Rolex Kaliber
Das Jahr 2016 stand im Zeichen der äußerlich durchaus verblüffenden, technisch jedoch deutlich aufgewerteten Air-King. Bei detaillierter Betrachtung knüpft die Referenz 116.900 gleich in mehrfacher Hinsicht an die 2007 lancierte Oyster Perpetual Milgauss, Referenz 116400.
Da ist zum ersten das 2007 zusammen mit der Rolex Milgauss-Referenz 116400 eingeführte Automatikkaliber 3131. Konstruktiv basiert die 28,5 Millimeter große und sechs Millimeter hoch bauende Manufaktur-Mechanik auf dem 3130, welches sich seinerseits vom 3135 ableitet.
Bei dieser Gelegenheit darf kurz auf die Kaliber-Systematik des Hauses Rolex in Sachen klassischer Automatikwerke hingewiesen werden. 22xx meint Kaliber mit 20 Millimetern Durchmesser. 31 und 32, beginnend 2015 mit dem 3255 kennzeichnen die jeweilige Generation. Die letzten beiden Ziffern der vierstelligen Kalibernummer bringen die Spezifika zum Ausdruck. xx30, xx31 und xx32 lassen wissen, dass das Uhrwerk lediglich die Stunden, Minuten und Sekunden darstellt. xx35 steht für das Fensterdatum, xx55 für Datums- und Wochentagsindikation, xx85 für das Zeitzonen-Dispositiv beispielsweise in der GMT-Master II und xx95 für die Mondphasenanzeige in der Cellini Moonphase.
Bei der Generation 31xx erfolgt die gleitende Lagerung der beidseitig wirkenden Schwungmasse noch auf konventionelle Weise mit Hilfe eines reibungs- und verschleißmindernden Steins. Man erkennt diese Werke leicht an der flachen Abdeckung über dem zentralen Rotorlager. In der 32-er Generation nutzt Rolex dagegen ein Kugellager. Zum Lösen der zentralen Rotor-Befestigungsschraube braucht es ein spezielles Werkzeug. Ein weiterer wesentlicher Unterscheidungsaspekt besteht in der Hemmung.
Während in den 31xx Kalibern eine klassische Schweizer Ankerhemmung agiert, verbaut Rolex in den Werken der neuesten 32-er Generation eine deutlich energieeffizientere „Chronergy“-Hemmung. Zusammen mit einem modifizierten Energiespeicher steigt die Gangautonomie von 48 auf 70 Stunden. In allen 3xxx-Werken vollzieht der hauseigene Gangregler, dessen Unruh variable Trägheit besitzt, stündlich 28.800 Halbschwingungen, was einer Frequenz von vier Hertz entspricht. Heftigen Stößen wirkt die Paraflex Stoßsicherung entgegen.
Dass die Generation 31xx grundsätzlich nicht zum alten Eisen gehören, unterstreichen die Erkenntnisse einschlägig erfahrener Serviceuhrmacher. Sie loben die Robustheit und hohe Zuverlässigkeit in allen Lebenslagen.
Schützender Käfig und mehr
Egal, um welche Automatikwerke es sich handelt: Sie sind so genannte Zwangsläufer, welche so schnell kaum etwas aus dem Zeittakt bringen kann. Selbst ohne Öl reiben Sie sich im wahrsten Wortsinn für ihre Besitzerinnen und Besitzer auf. Gleichwohl gibt es einen Feind, der alles zum Stillstand bringen kann. Vom Fluch übermäßig starker Magnetfelder wussten Kraftwerkstechniker, Cockpit-Besatzungen und Ingenieure ein leidvolles Lied zu singen. Für sie und andere ließ Hans Wilsdorf die 1955 vorgestellte Milgauss entwickeln.
Dank ihres modifizierten Automatikkalibers 1065 M mit amagnetischen Komponenten und eines leitfähigen Weicheisen-Innengehäuses, welches magnetische Kraftfelder wirkungsvoll um das Uhrwerk herumleitet, bewahrte sie die Zeit bis zu 1.000 Gauss garantiert korrekt. Solches bestätigte auch das European Centre for Nuclear Research (CERN) am 10. August 1970.
Gleichwohl verschwand die sehr spezifische, von Rolex eher stiefmütterlich behandelte und deshalb zeitlebens auch nicht übermäßig erfolgreiche Milgauss, Referenzen 1019 ohne und 6541 mit Drehlünette, mangels rentabler Stückzahlen im Jahr 1988 aus den offiziellen Katalogen. Der Name setzt sich übrigens zusammen aus „mil“, der französischen Abkürzung für 1.000, und demjenigen des deutschen Mathematikers und Physikers Carl Friedrich Gauß.
Gestalterisch an die Referenz 1019 knüpft die Renaissance Milgauss 116400 des Jahres 2007. Ihr Oyster-Gehäuse besteht aus dem korrosionsbeständigen Oystersteel 904L. Zusammen mit dem inneren Weicheisen-Käfig umfängt es das Automatikkaliber 3131. Exakt diese Schale mit 40 Millimetern Durchmesser und 13 Millimetern Gesamthöhe verwendet Rolex auch für die Rolex Air-King, Referenz 116900. Ihre Wasserdichte reicht bis zu zehn bar Druck.
Bestandteil der aktuellen Rolex Air-King ist ferner das Oyster-Gliederband mit komfortabler Oysterclasp-Faltschließe. Im Handumdrehen gestattet das integrierte Easylink-System die Verlängerung um einen halben Zentimeter. Diese Rolex Innovation weiß man beispielsweise dann zu schätzen, wenn das Handgelenk am Abend etwas angeschwollen ist.
Natürlich muss neben dem augenfälligen Zifferblatt aus einer Weicheisen-Legierung auch sonst noch ein gewisser Unterschied sein. Schließlich kostet die Air-King bei grundsätzlich gleichen Eigenschaften gegenwärtig 1.750 Euro weniger als die in zwei Versionen erhältliche Milgauss. Zur sofortigen Unterscheidung ist mittige Gliederreihe des Armbands satiniert und nicht glanzpoliert. Erst der zweite oder gar dritte Blick fördert hingegen ans Tageslicht, dass Rolex sein Kronenlogo beim Air-King Armband vertieft in die Faltschließe fräst, während es bei der Milgauss erhaben darauf ruht.
Keinen Unterschied macht Rolex hinsichtlich Ganggenauigkeit und Garantie. Als offiziell geprüfter Chronometer der Superlative bewegt sich die bei tägliche Gangabweichung im sehr engen Delta zwischen minus und plus zwei Sekunden. Und das gilt für die fertiggestellte Armbanduhr, welche über das 15-tägige COSC-Prozedere fürs Uhrwerk hinaus auch noch den strengen internen Qualitäts- und Präzisionscheck erfolgreich bestehen muss. Auf das fertige Produkt gibt Rolex insgesamt fünf Jahre internationale Garantie.
Warum nur, warum?
Zum Schluss stellt sich die Frage, warum der Uhrenkosmos so ausführlich über zwei mehr oder minder betagte Rolex-Referenzen berichtet. Einer besteht darin, dass sowohl die Milgauss als auch die Air King im Produktportfolio den Status des Exotischen besitzen.
Anders als die Milgauss 116400GV mit markant grünem Saphirglas, welche nach der Vorstellung im Jahr 2007 sehr schnell reüssierte, mochte sich bei der Air-King 116900 keine spontane Begeisterung einstellen. Zu sehr spaltete das Zifferblatt die Gemüter. Daran konnte auch der vergleichsweise günstige Preis nichts ändern. Obwohl man letztgenannte Armbanduhr wie nahezu alle anderen Rolex Modelle beim Konzessionär nicht sofort mitzunehmen vermag, könnte es durchaus sein, dass sich ihr Lebenszyklus alsbald schon zu Ende neigt.
Und damit sind wir beim zweiten Grund: Schritt für Schritt vollzieht Rolex bei seiner Modellpalette den mechanischen Generationenwechsel. In diesem Sinne könnte in die Air-King das mit einer ohnehin schon amagnetischen Hemmungs-Baugruppe ausgestattete Automatikkaliber 3230 Einzug halten. Denkbar wäre auch ein neues Automatikkaliber 3231 mit deutlich verbesserten paramagnetischen Eigenschaften. Bekanntlich hat Rolex zusammen mit Patek Philippe und der Swatch Group die Silizium-Technologie weiterentwickelt. Ein Resultat dieses Engagements ist die 2015 im Damen-Kaliber 2236 vorgestellten Syloxi-Unruhspirale aus thermisch stabilisiertem und zudem vollkommen amagnetischem Silizium.
Unruhspiralen aus besagtem Werkstoff bewähren sich mittlerweile auch in den Manufakturkalibern MT54xx, MT56xx und MT58xx der Tochter Tudor. Was also könnte Rolex daran hindern, eine ganz neue Milgauss- und Air-King-Generation auf den Markt zu bringen, welche wie die 2021 lancierte Tudor Black Bay Ceramic, Referenz 79210CNU, zusätzlich auch die Vorgaben des Eidgenössischen Instituts für Metrologie erfüllt.
Rolex Air King
Nicht abschätzen lässt sich in diesem Zusammenhang, ob Rolex im genannten Fall nur das Uhrwerk austauscht und ansonsten beim außergewöhnlichen Zifferblatt bleibt. Aber die Genfer Uhrenmanufaktur wird wie immer ihren eigenen Weg gehen. Wer weiß, bleibt die Linie und es wird auch nur viel aktualisiert. Spätestens dann dürfte sich die Rolex Air-King, Referenz 116900, wegen ihrer einzigartigen Optik zu einem Sammlerobjekt entwickeln.
Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die 2003 zum 50. Submariner-Geburtstag vorgestellte Rolex Referenz 16610LV. Dem grünen Drehlünetten-Inlay begegnete man anfangs ebenfalls mit Skepsis. Inzwischen besitzt diese Armbanduhr echten Kultstatus. Wer sich damals eine zulegte, hat definitiv nichts falsch gemacht.
So gesehen ist es aus Sicht des Uhrenkosmos definitiv kein Fehler, die hinsichtlich ihrer Preis-Leistungs-Relation gegenwärtig günstigste Rolex zu erwerben. Sofern man beim offiziellen Fachhändler eine Air-King 116900 für (nach der Preiserhöhung zum 1. Januar 2022) 6.700 Euro statt zuvor 6.000 Euro bekommt. Im Parallelmarkt zahlt man für diese Armbanduhr je nach Alter und Zustand mittlerweile ab rund 8.000 Euro. Mit Blick auf die künftige Wertentwicklung scheint auch das akzeptabel zu sein. Die Kurve zeigt nämlich kontinuierlich nach oben. Für ungetragene Objekte werden inzwischen bereits mehr als 10.000 Euro verlangt und bezahlt.
Auch das sei zum Schluss aus eigener Erfahrung gesagt: Im Laufe der Zeit am Handgelenk gefällt die Air-King Referenz 116900 immer besser. Mit 157 Gramm ist sie auch wegen des zusätzlichen Innengehäuses allerdings kein Leichtgewicht. Dem Tragekomfort tut das indessen keinen Abbruch.
Autor Gisbert L. Brunner
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