Mein Weg zum ersten Kaliber 135
Vom Hören und Lesen war mir das in der neuen Zenith Calibre 135 Observatoire verwendete Manufaktur-Handaufzugskaliber Zenith 135 seit den 1970-er Jahren bekannt. Die Chance, eine damit ausgestattete Armbanduhr zu kaufen, eröffnete sich indessen erst am 3. September 1981.
Im Zuge einer Radtour von München zum Neusiedler See durchquerte ich auch die Ortschaft Pinkafeld. Im Geschäft von Max Reiss, der neben Brillen und Hörgeräten auch Uhren verkaufte, fragte ich wie üblich nach tickenden Ladenhütern. In einer der unteren Schubladen lag sie dann, die Zenith 2000 mit besagtem Kaliber 135. Daneben ein Ulysse Nardin Automatikchronometer.
Der Kauf ging schnell über die Bühne. Für jeweils 450 Österreichische Schillinge, umgerechnet rund 65 Mark oder heute etwa 33 Euro gelangten die stählernen Armbanduhren in meinen Besitz. Speziell die Zenith nahm ich bis zur Rückkehr nach München nicht mehr vom Handgelenk. Gut 40 Jahre liegt das nun zurück. Wenn man die heutigen Preise für Zeitmesser mit diesem feinen Uhrwerk anschaut, mag man es gar nicht mehr glauben. Unter 2.000 Euro ist das Ausnahmekaliber 135 in einer stählernen Zenith 2000 kaum noch zu finden. Frühere Chronometer-Versionen kosten sogar noch deutlich mehr.
Sieger-Kaliber
Mit dem, was Zenith in Kooperation mit Kari Voutilainen und dem Auktionshaus Phillips Anfang Juni in einer Mini-Edition als Zenith Calibre 135 Observatoire Limited Edition von nur zehn Exemplaren auf den Markt brachte, hat dieses Modell 2000 nur unter optischen Gesichtspunkten etwas zu tun. Zwar tickt auch in der sofort ausverkauften Platin-Armbanduhr das legendäre Kaliber 135. Ganz konkret handelt es sich jedoch um die Version 135-O. Und der nachgestellte Buchstabe macht, auch wenn man es nur auf den zweiten oder gar dritten Blick sehen kann, den ganz großen Unterschied. O steht für Observatorium.
Will heißen, die streng limitierte und unverzüglich ausverkaufte Serie zum Stückpreis von 132.000 Schweizerfranken geht zurück auf einen Restbestand an Uhrwerken, welche in den späten 1940-er und den 1950-er Jahren erfolgreich an Observatoriums-Wettbewerben teilgenommen haben.
Insgesamt 235 Preise für perfektes Regulieren und damit extrem hohe Ganggenauigkeit konnten diese Uhrwerke mit exakt 30 Millimetern Durchmesser zu Zenith nach Le Locle holen. 228 davon hatte das Observatorium Neuchâtel im Zuge der jährlich veranstalteten Chronometrie-Wettbewerbe vergeben. Dort trat Zenith traditionsgemäß in verschiedenen Klassen unter anderem gegen Longines, Omega und Ulysse Nardin an.
Auf Beschluss des Staatsrats des Kantons Neuchâtel, dem Aufsichtsorgan des Observatoriums gab es ab 1940 eine neue, zusätzliche Werkekategorie. Sie betraf „Chronometer, die bestimmt sind, am Armband getragen zu werden.“
Bis 1947 durften die Kandidaten Durchmesser bis zu 34 Millimeter besitzen. Ab 1948 waren nur noch maximal 30 Millimeter zulässig. Bei anderer Form als rund galt ab 1951 eine maximale Oberfläche von 707 mm², was exakt jener eines 30 mm messenden runden Uhrwerks entsprach.
Ephrem Jobin und das Kaliber 135
Unter dieser Prämisse beauftragte Charles Ziegler, seines Zeichens technischer Direktor bei Zenith, den mit allen konstruktiven Wassern gewaschenen Wassern Uhrmacher Ephrem Jobin im Jahr 1947 mit der Kreation eines klassisch runden Wettbewerbskalibers. Sein Durchmesser: exakt 30 Millimeter. 1948 hatte er seinen Job erledigt. Beim exakt fünf Millimeter hoch bauenden Uhrwerk stach sofort die riesige, mit den damals üblichen 2,5 Hertz oszillierende Unruh ins Auge.
Genaues Studium des mächtigen Gangreglers mit 14 Millimetern Durchmesser zeigt einmal, dass der mit vielen Schrauben bestückte Ring an zwei gegenüber liegenden Stellen durchtrennt ist. Des Weiteren lässt sich erkennen, dass er aus zwei verschiedenen Materialen besteht. Innen kommt Anibal, außen Messing zu Einsatz.
Charles Edouard Guillaume und seine Forschungen
An dieser Stelle kommt der am 15. Februar 1861 in Fleurier geborene und 1938 in Sèvres verstorbene Charles Edouard Guillaume ins Spiel. 1920 erhielt er den Nobelpreis in Physik als “Als Anerkennung des Verdienstes, das er sich durch die Entdeckung der Anomalien bei Nickelstahllegierungen und die Präzisionsmessungen in der Physik erworben hat.”
Der renommierte Physiker entstammte einer Uhrmacherfamilie, studierte und promovierte 1883 an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Als Angestellter am „Bureau international des poids et mesures“ in Sèvres beschäftigte er sich von Berufs wegen intensiv mit metallurgischen Dingen.
Seinem Forschungsdrang entsprang ab 1896 das Material Invar, ein Kürzel für invariabel. Dabei handelt es sich um eine Legierung aus Eisen und Nickel mit sehr geringem Wärmeausdehnungskoeffizienten. Mit Hilfe dieses Werkstoffs ließen sich u.a. temperaturstabile Unruhspiralen und Pendelstangen fertigen.
Das Jahr 1900 brachte Anibal, ein Kürzel für „acier nickel pour balanciers“. Der speziell legierte Nickelstahl für Unruhn (56 % Stahl, 44% Nickel) ersetzte einfachen Stahl und reduzierte dadurch den sekundären Temperaturfehler in den gebräuchlichen bimetallischen Kompensationsunruhn.
Kompensationsunruh, was ist das?
Letztere gleichen die Längenveränderung des für die Unruhspirale genutzten Stahls aus. Bekanntlich bewirken steigende Temperaturen eine Verlängerung und lassen die Uhr auf diese Weise vorgehen. Bei sinkenden Temperaturen zieht sich der Stahl zusammen. Die Uhr geht vor. Diesem unerwünschten Ausdehnungsverhalten wirkt die bimetallische Kompensationsunruh.
Ihr zweilagiger Reif besteht innen traditionsgemäß aus Stahl. Die deutlich besser wirkende und deshalb höhere Präzision gewährleistende Guillaume- oder Integral-Unruh, welche im Kaliber 135-O Verwendung findet, besitzt hingegen einen inneren Ring aus besagtem Anibal. Außen kommt Messing mit höherem thermischen Ausdehnungskoeffizienten zum Einsatz.
Demzufolge biegen sich die freien Enden des Unruhreifs bei Erwärmung nach innen. Die nun geringere Masseträgheit der Unruh gleicht die Auswirkungen der längeren Unruhspirale auf die Ganggenauigkeit aus. Das Umgekehrte passiert bei Abkühlung. Durch Versetzen kleiner Schrauben im Unruhreif konnten und können erfahrene Regleure die Kompensationswirkung exakt auf das thermische Verhalten der Unruhspirale abstimmen.
Die „Temperaturfahrt“ während der Chronometerprüfung nimmt dadurch so gut wie keinen Einfluss auf die Gangabweichung, welche sich bei Top-Chronometern im Bereich von Zehntel- oder gar Hundertstelsekunden pro Tag bewegt. Natürlich verfügte der Gangregler des Kalibers 135-O über eine Unruhspirale mit hochgebogener Endkurve nach Professor Edouard Philips.
Jobins „Irrweg“
Zurück zu Ephrem Jobin: Hinsichtlich der exzentrischen Anordnung des Minutenrads sprach der Konstrukteur von einer „chaussée folle“. Aber das, was auf gut Deutsch nichts anderes meint als verrückte Fahrbahn oder Irrweg bewährte sich zusammen mit einem möglichst großen Federhaus zur Steigerung der Gangautonomie. Selbige bewirkte einen geraden Verlauf der Drehmomentkurve des Energiespeichers während der bei Chronometerprüfungen üblichen 24-Stunden-Intervalle von Handaufzug zu Handaufzug.
Auf der Grundlage von Jobins ungewöhlicher Konstruktion entstanden bei Zenith mehr als 200 Exemplare des Kalibers 135-O, Nicht weniger als 170 davon nahmen an den Chronometer-Wettbewerben in Neuchâtel, Genf, Besançon, Frankreich, oder Kew Teddington bei London teil. Und kehrten nach den strengen Prüfungen mit Auszeichnung nach Le Locle zurück.
Die mühsame und sehr zeitaufwändige Regulierung über mehrere Monate hinweg oblag zunächst Charles Fleck und später René Gygax. Beide leiteten nacheinander das Chronometrie-Labor von Zenith, in dem während der 1950er-Jahre unter anderem auch die Herren Vuille, Sunier und Favre als Regleure tätig waren.
Die zehn Exemplare der Limitierten Edition mit dem Kaliber 135-O gehen übrigens ausnahmslos auf das Konto von Charles Fleck und René Gygax. Fünf Jahre in Folge zwischen 1950 und 1954 siegten Kaliber 135-O bravourös bei den Wettbewerben des Observatoriums Neuenburg. Und damit handelt es sich um einen nie mehr erreichten Rekord.
Chronometerprüfungen durch Observatorien
Spätestens bedarf es einiger Worte zu den Schweizer Chronometerprüfungen durch Observatorien. In Neuchâtel begannen die in jährlichem Turnus durchgeführten Chronometer- oder Präzisionswettbewerbe 1866. Die Genfer Sternwarte folgte 1873 und stellte ihre Prüfungen für mechanische Zeitmesser 1967 im Zuge der Quarz-Revolution ein. Neuchâtel beendete seine diesbezüglichen Aktivitäten im Jahr 1975. Von 1945 bis 1967 veranstalteten beide Observatorien auch Wettbewerbe für mechanische Armbanduhren.
Ungeachtet mehrfacher Angleichungen der Prüfbedingungen kam es übrigens nie zu einer Vereinheitlichung. Direkte Vergleiche der Resultate lassen sich daher nur bedingt ziehen. Da wie dort gestattete das Reglement die mehrmalige Einreichung ein und derselben Uhr im Laufe eines Jahres.
Das beste Ergebnis zählte am Ende für den Ausgang des Wettbewerbs. Auch war es möglich, eine Uhr, welche bei den strengen Prüfungen versagte, nach gründlicher Überarbeitung nochmals im gleichen Jahr nochmals einzureichen. Schließlich war es durchaus üblich, besonders gute und erfolgreiche Exemplare in den folgenden Jahren erneut einzusenden.
Prüfung am Observatorium Neuchâtel
Das Observatorium Neuchâtel startete 1940 mit den Prüfungen von Kalibern für Armbanduhren. 1945 bestanden von 82 eingereichten Kandidaten insgesamt 45 die langwierige Prüfung. Neben den Preisen für die besten Einzeluhren jeder Kategorie verlieh die Institution jedes Jahr einen Serienpreis für Uhrenfabrikanten. In diesem Fall erfolgte zu gemeinsame Bewertung der vier besten Armbanduhren. Im Mittel durften sie 16 Punkte nicht überschreiten. Außerdem gab es den Prix Guillaume für Regleure.
Chronometer, welche Werte zwischen 0 (Optimum) und 8,5 Punkten erreichten, bekamen einen ersten Preis. Einen zweiten Preis gab es für Chronometer mit 8,5 bis 10 Punkten, einen dritten Preis für 10 bis 12 Punkte. 30 Punkte reichten zum Bestehen der Prüfung. Ab 1963 gab es nur noch eine Gruppe prämierter Armbanduhren. Mit einem Grenzwert von 7,5 Punkten lag dieser sogar niedriger als zuvor bei einem ersten Preis. Geschuldet war diese Regeländerung zunehmender Präzision der eingereichten Armbanduhren.
Die kontinuierliche Steigerung der Gangleistungen und die sinkenden Punktezahlen bei den Uhrwerken resultierten zum einen aus den Herausforderungen der Chronometerprüfungen. Des Weiteren optimierten die Regleure ihr chronometrisches Schaffen. Schließlich trugen aber auch Materialforschung und verbesserte Werkstoffe einen keineswegs unerheblichen Teil bei.
Ein Trost für zu kurz Gekommene
Wie schon gesagt, waren die nur zehn Zenith Armbanduhren mit Platinschale und dem Kaliber 135-O innerhalb vom Minten nach dem Lancement gleich mehrfach geordert. Die sorgsame Feinbearbeitung, Repassage und Regulierung der ansonsten unveränderten Uhrwerke obliegen Kari Voutilainen und seinem Team. Dazu folgt demnächst an dieser Stelle ein Interview mit dem finnischen Meister-Uhrmacher.
Phillips Auktionen und der dortige Uhren-Guru Aurel Bacs übernehmen die schwierige Aufgabe des Verteilens. Zum Zuge kommen vermutlich nur die besten Kunden des Auktionshauses.
Einen Hoffnungsschimmer gibt es für jetzt zu kurz Gekommene. Im Herbst 2022 wird Phillips ein weiteres und zugleich auch letztes Exemplar meistbietend versteigern. Alles anderen müssen sich mit der normalen, sprich frei verkäuflichen Ausführung des Kalibers 135 begnügen. Davon entstanden bis 1962 rund 11.000 Stück in mehreren Serien. Mehr zum Kaliber Zenith 135 für Normalsterbliche ebenfalls bald im Uhrenkosmos.
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