Design mit Vergangenheit
Zweifellos blickt die neue Ruhla 1929 Space Control Sigmund Jähn 1978 auf eine bemerkenswerte Geschichte zurück. Die Verbindung zur Raumfahrt gehört zu den wesentlichen Gründen, warum ich mir diese Armbanduhr gekauft und nun auch einige Wochen getragen habe. Zunächst möchte ich mich jedoch dem Design widmen: Gestalterisch knüpft der für 449 Euro erhältliche Ruhla 1929 Space Control Zeitmesser an die Tradition stählerner Sportuhren mit integriertem Gliederband. In den 1970-er und frühen 1980-er Jahren machten diese Modelle erstmals von sich reden.
Allerdings reicht die Kombination aus tonneauförmigem Gehäusekorpus samt Kante und rundem Zifferblatt noch sehr viel weiter zurück. Beispielsweise präsentierte Rolex in den 1930-er Jahren ganz unterschiedliche Oyster-Modelle dieses Typs. Ab 1972 wirkte die von Gérald Genta gezeichnete Audemars Piguet Royal Oak diesbezüglich ausgesprochen stimulierend. Mehrere Gehäusefabrikanten präsentierten Schalen mit dem charakteristischen Genta-Knick. Und Uhrenmarken griffen logischer Weise danach. Spielmöglichkeiten boten die Ausprägung des Glasrands oder die Befestigung des Gliederbands.
So gesehen ist das, was POINTtec seiner Klientel in Gestalt der Ruhla Space Control (RSC) offeriert, bei hintergründiger Betrachtung nichts anderes als die Fortsetzung einer langen Tradition. Abgesehen davon erinnert sie an Sigmund Jähn. Als erster Deutscher flog er 1978 ins Weltall. Im Zuge des Sojus-31-Mission verweilte er dort ganze sieben Tage. Als zeitbewahrende Begleiterin fungierte eine natürlich in Ruhla speziell dafür produzierte Armbanduhr mit Gliederband. Das 45 Jahre später lancierte Modell orientiert sich an der aktuellen Popularität sportlich-eleganter Armbanduhren mit integriertem Gliederband.
Erinnerungen an die Zukunft
Für POINTtec bedeutet dieser Zeitmesser einen wichtigen Schritt in die Zukunft unter Leitung von Nathalie Birk, welche ihr Vater Willi Birk weiterhin tatkräftig unterstützt. Bringt er doch den traditionsreichen Namen Ruhla zusammen mit der Jahreszahl 1929 zurück in die Uhrenszene. Ein Interview mit Tochter und Vater findet sich hier im Uhrenkosmos.
In der thüringischen Kleinstadt nahe Eisennach begann alles im Jahr 1862 mit den Gebrüdern Thiel. Von Uhren war damals jedoch noch keine Rede, denn anfangs mangelte es noch an einschlägiger Kompetenz. Christian Thiel besaß eine Ausbildung zum Kaufmann und sein Bruder Georg war gelernter Metallbearbeiter.
Mit Pfeifenbeschlägen, Schutzgehäusen für Taschenuhren, Gewichtshülsen aus Messing, Schaufensterhaken sowie Absatzschonern und Stoßkappen für Schuhe starteten sie ihre unternehmerische Karriere. Einfluss auf die weitere Entwicklung dürfte Georg-Friedrich Roskopf genommen haben. 1867 brachte der Schweizer die billige, aber dennoch hinreichend genaue Proletarier-Taschenuhr mit Pfeilerwerk und Stiftankerhemmung für jedermann auf den Markt.
Das Aufkommen dieser neuen Technik für die Massen beeinflusste in Ruhla wohl die Entwicklung erster, sehr einfach gehaltener Kinderspieluhren. Erhältlich ab 1878 bescherten sie dem Unternehmen eine Art Monopolstellung in Deutschland, England, Frankreich, Italien der Schweiz und den fernen USA.
Aus diesen erfolgreichen Produkten leitete sich 1892 die Fearless ab, die erste funktionsfähige Uhr aus Ruhla. Wie der Name andeutet, reüssierten die furchtlosen Taschenuhren insbesondere im englischsprachigen Raum. Die Nachfrage war derart hoch, dass Thiel zur Befriedigung 70 Uhrmacher aus der Schweiz nach Thüringen holen musste.
Die Spezialisierung auf preiswerte Roskopf-Zeitmesser beeinflusste auch die weitere Entwicklung. Ab 1908 entstanden in Ruhla nach den bewährten Grundsätzen rationeller Fertigung und möglichst großer Stückzahlen auch robuste Armbanduhren namens Darling und später Divina, Start oder Hektor. Die Rechnung ging auf, denn solche Zeitmesser konnten sich auch Menschen mit kleinem Budget leisten.
Höhere Ansprüche befriedigte Thiel mit Zylinder- oder Palettenankerhemmung. Hier jedoch hielt sich der Erfolg in überschaubaren Grenzen. 1928 startete in Ruhla die Fließbandfertigung von Uhren. Viele der nötigen Maschinen entstanden dabei unter eigenem Dach, angeregt auch durch den Erfindungsreichtum einfacher Arbeiter.
Turbulente Zeiten in Ruhla
1929 brachte ein neues Verwaltungsgebäude im Bauhausstil. Hierfür verantwortlich zeichnete das 1919 in Jena gegründete Architekturbüro Schreiter & Schlag. Im Laufe von 40 Jahren entwarfen Johannes Schreiter und Hans Schrag mehr als 200 öffentliche und private Gebäude. Erstes Aufsehen erregte 1926 das Planetarium in Jena. In Ruhla kletterte die Jahresproduktion an Uhren von 900.000 im Jahre 1924 bis 1938 auf sage und schreibe zwei Millionen Exemplare.
In jenen 1020-er Jahren begann die Herstellung der populären Thiel Start. Sie endete erste 1961. Natürlich erfuhr diese Armbanduhr im Laufe von 23 Jahre regelmäßige, dem Stand der Technik folgende Modifikationen. Mit dem Zweiten Weltkrieg ging eine Umstellung der Produktion beispielsweise auf Bombenzünder einher. Rüstungsgüter waren ein Grund dafür, dass nach dem Einmarsch der Rote Armee am 6. Juli 1945 eine Beschlagnahmung u.a. des Vermögens der Gebrüder Thiel GmbH Ruhla erfolgte.
Als Reparationsleistung fand gut ein Jahr später die Übertragung ihrer Uhren- und Maschinenfabrik an die Sowjetische Aktiengesellschaft für Präzisionsmaschinen Awtowelo SAG statt. Sie bewirkte einen Neustart in Thüringen, welcher später in die VEB Uhren- und Maschinenfabrik Ruhla mündete. Von Lethargie konnte keine Rede sein
Zur Legende entwickelte sich die 1963 vorgestellte Kaliberfamilie 24-xx mit 10½ Linien Durchmesser, Handaufzug und Stiftankerhemmung. Bis Ende der 1980-er Jahre verließen mehr als 100 Millionen Exemplare die Produktionsstätte in alle Welt. Die tägliche Fertigungskapazität erreichte mitunter 25.000 Stück. Daneben beschäftigte man sich in Ruhla auch mit der Entwicklung elektronischer Zeitmesser. Auch die Vorläufer der modernen Quarzuhr entstanden in millionenfacher Ausführung.
Nach der so genannten Wende veranlasste die Treuhand eine Zerschlagung des Unternehmens in viele kleinere Einzel-Betriebe. Schweres Gerät machte die imposante Industrieanlage dem Erdboden gleich. Übrig blieb allein das denkmalgeschützte Verwaltungsgebäude im Bauhausstil, in dem ein kleines Team unter Leitung des ehemaligen Entwicklungsdirektors Artur Kamp weiterhin Uhren herstellte.
Seit Anfang der 1990-er Jahre auch solche für die in Ismaning bei München beheimatete POINTtec. Mehr über POINTtec uns dessen interessante Geschichte gibt es hier zu lesen. Letztere übernahm 2019 den Betrieb in Ruhla samt dem stattlichen Bauhaus-Gebäude, der darin befindlichen Uhrenmontage, dem sehenswerten Museum sowie aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Produktion.
Aus Ruhla ins Weltall
Nach diesen Ausführungen sollte klar geworden sein, warum alle neuen Uhren, darunter auch Space Control die Signatur Ruhla 1929 tragen. Sie entstehen in dem geschichtsträchtigen Bauwerk von 1929, dessen Inneres POINTtec nach dem Kauf vor vier Jahren aufwändig sanierte. Über kurz oder lang muss sich aber auch noch die einzigartige Fassade einer gründlichen Renovierung unterziehen. Rechtlich wäre es übrigens gar nicht möglich, alleine den Ortsnamen Ruhla für eine Uhrenfabrik schützen zu lassen.
Mehr als logisch ist bei der Ruhla 1929 Space Control der Bezug zum ersten Weltraumflug eines deutschen Kosmonauten im Jahr 1978. Mitglieder der Generation Z werden sich wohl kaum an Sigmund Jähn erinnern. In den Luftstreitkräften der ehemaligen DDR stieg er vom Jagdflieger zum Ausbilder auf. Der Weg zum Kosmonauten war fast eine logische Folge. Zusammen mit seinem Vorgesetzten Waleri Bykowski startete der Ostdeutsche am 26. August 1978 zur sowjetischen Raumstation Saljut 6. Im Rahmen der Mission Sojus 31 umkreiste er die Erde zur Durchführung zahlreicher wissenschaftliche Experimente insgesamt 124 Mal.
Und was ich dann sah, war totale Glückseligkeit: Unsere Erde, in leuchtendes Blau gehüllt. Einfach traumhaft.
Während des Startes trug Jähn nach eigenem Bekunden seine ganz normale Armbanduhr. Im Gepäck befanden sich jedoch vier speziell gestaltete Souvenirs aus dem Ruhlaer Uhrenwerk. Deren braune Fumé-Zifferblätter mit Farbverlauf trugen die Aufschrift Bemannter Weltraumflug UDSSR/DDR. Je eine war für die drei russischen Kosmonauten gedacht. Jähn überreicht sie an Bord der Raumstation. Die vierte legte er ans eigene Handgelenk. Um die Zeit im Weltall kümmerte sich ganz zeitgemäß das neu entwickelte Quarzwerk 28-33. Insgesamt entstanden seinerzeit von diesem Sondermodell rund 300 Stück für alle an der Mission Beteiligten.
Ruhla 1929 Space Control
Nach rund vier Wochen am Handgelenk ist es Zeit für ein erstes Resümee zur Ruhla 1929 Space Control Automatic Sigmund Jähn 1978. Nach persönlichen Erfahrungen sind 60 Stunden kein leeres Versprechen. Ein Leichtgewicht ist die 40 Millimeter messende Armbanduhr der Edition Interkosmos nicht. Auf die Waage bringt mein Exemplar mit der Nummer 40 exakt 145 Gramm.
Gehäuse und Gliederband entsprechen nicht dem, was Sigmund Jähn 1978 mit ins ferne Weltall nahm. Reinrassiger Retrolook wäre allein schon deshalb unsinnig gewesen, weil ein Mitbewerber so etwas schon vor Jahren auf den Markt brachte. Einen unverkennbaren Link zu damals stellen das braune Zifferblatt und der Aufdruck „Bemannter Weltraumflug 1978“ her.
Keineswegs störend empfand ich den Grund, warum ich gelegentlich auf diese Armbanduhr angesprochen wurde. Gemeint ist eine gewisse gestalterische Nähe zur aktuellen Tissot PRX. Auch sie greift nur ein gängiges Design der 1970-er Jahre auf. Meine Wahl traf ich in erster Linie wegen des Comebacks der Marke Ruhla 1929. Weil mich die sehr einfachen und in großen Mengen hergestellten Stiftankerwerke aus Thüringen beim besten Willen nicht überzeugten, hat es bislang keine Original Thiel Ruhla an meinen Unterarm geschafft.
Aber zurück zur RSC, welche im Hause POINTtec die erste Armbanduhr mit integriertem und in der Länge anpassbarem Gliederband verkörpert. Wer selber Hand anlegen möchte, benötigt passendes Werkzeug zum Aus- und Eintreiben der durch kleine Hülsen gesicherten Stifte. Ergo empfiehlt es sich, das Band schon beim Kauf justieren zu lassen.
Die sehr einfach ausgeführte Faltschließe aus Edelstahlblech besitzt einen Sicherheitsverschloss sowie eine Verstellmöglichkeit im Bereich von ca. fünf Millimetern. Auch dazu ist ein dünner Dorn erforderlich. Zwei Federstege halten das Armband am Gehäuse. Bei Bedarf ist es gegen ein gängiges, 22 Millimeter breites Leder-, Kautschuk- oder Textband austauschbar. Diesen Spaß habe ich mir auch erlaubt, aber das Resultat hat mir persönlich nicht sonderlich gut gefallen.
Mechanik aus Japan
Wer die bis 100 Meter wasserdichte und mit Saphirglas ausgestattete RSC im Profil betrachtet, erkennt als Designelement sofort die leichte untere Einschnürung der Lünette, welche auf diese Weise über dem Gehäusemittelteil zu schweben scheint. Unangenehm scharfe und ggf. Manschetten killende Kanten konnte ich weder am Gehäuse noch am Gliederband entdecken.
Hinter dem Mineralglas-Sichtboden lässt sich das Automatikwerk fernöstlicher Provenienz beobachten. POINTtec bezieht es von Citizen oder genauer gesagt von dem zum japanischen Konzern gehörenden Werkefabrikanten Miyota. Konkret handelt es sich um das mit einem Streifenschliff veredelte Kaliber 8315. Sein Durchmesser beträgt 11½ Linien, die Bauhöhe 5,67 Millimeter. Der durchbrochen gestaltete Rotor spannt die Zugfeder in einer Drehrichtung. Nach Vollaufzug stehen besagte 60 Stunden Gangautonomie zur Verfügung. Das sind ca. 18 Stunden mehr als beim Basiskaliber 8215.
Möglich machen es analog zum Eta Powermatic 80 u.a. ein modifiziertes Federhaus und ein somit längerer Energiespeicher. Drei Hertz beträgt die Unruhfrequenz. Sekundengenaues Einstellen der Uhrzeit gestattet ein Unruhstopp. Per Krone lässt sich das Fensterdatum rückwärts verstellen. Zum Herausziehen der flachen Krone, die sehr dich an der Gehäuseflanke anliegt, braucht es Fingerspitzengefühl und hinreichend lange Fingernägel. Bei der Datumsanzeige hätte mir ein roter Druck auf hellem Hintergrund deutlich besser gefallen.
Überragende Ganggenauigkeit ist vom Miyota 8315 logischer Weise nicht zu erwarten. Die Uhrmacher von POINTtec regulieren es in Ruhla nach besten Möglichkeiten. Über die Trageperiode hinweg ging meine RSC im Durchschnitt täglich 13 Sekunden vor. Nachdem das 8315 eine indirekt angetriebene Zentralsekunde mit Friktionsfeder besitzt, kann es nach meinen Erfahrungen durchaus sein, dass abrupte Bewegungen den Sekundenzeiger ein wenig vor- oder rückwärts hüpfen lassen.
Bei den Zeigern beweist POINTtec mit der Ruhla 1929 Space Control Augenmaß. Ihre Länge passt perfekt zum Zifferblatt und seiner Indexierung. Guter Kontrast ermöglicht sicheres Ablesen der Zeit. Selbstverständlich ist Super-LumiNova Leuchtmasse mit an Bord.
Ruhla 1929 Space Control Sigmund Jähn Fazit
Bereut habe ich den Erwerb der Ruhla 1929 Space Control Automatic Sigmund Jähn 1978 bislang nicht. Trotz seines stattlichen Gewichts ist der Tragekomfort des ostdeutschen Zeitmessers hoch. Für das von POINTtec Gebotene geht der unverbindliche Publikumspreis von 449 Euro auf jeden Fall in Ordnung. Willi Birk und seine Tochter Nathalie haben das Produkt sehr scharf kalkuliert.
An dieser Stelle bieten sich Vergleiche mit Tissot und Citizen an. Die 40 Millimeter messende und bis zu zehn bar wasserdichten Tissot PRX (den Tissot PRX Chronographen hatten wir hier vorgestellt) kostet mit vorderseitigem Saphirglas 775 Euro. In ihrem Stahlgehäuse tickt das Powermatic 80.111 getaufte Kaliber Eta C07 mit drei Hertz. Dessen höhere Gangautonomie ist auch auf eine Kunststoff-Hemmung zurückzuführen, die man mag, oder auch nicht.
Lediglich 299 Euro verlangt Citizen für die Tsuyosa. Dafür reicht die Wasserdichte der stählernen Schale nur bis zu fünf bar. Und die Zeit bewahrt das technisch deutlich einfachere und handwerklich weniger finissierte Miyota 8210. Zaubern kann niemand. Bei Ruhla 1929 und der Space Control bekommt man fürs Geld ganz nebenbei auch noch ein gutes Stück deutscher Zeitgeschichte mit auf den Weg. Schließlich bedeutet Storytelling in der heutigen Zeit eine ganze Menge.
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